Wo stehen heute die Theaterfrauen aus Mittel- und Osteuropa?

Ein Bericht über das internationale Symposium „Dramaqueen: Neues Theater von Frauen aus Mittel- und Osteuropa“

 

Der Falls des Eisernen Vorhangs 1989 war für die Länder in Mittel- und Osteuropa ein Umbruch und in vielerlei Hinsicht ein Neubeginn. Zusammen mit der Transformation der politischen Verhältnisse wurde auch die Theaterlandschaft umgewälzt, mit der Auflösung des totalitären Regimes und der gewonnenen politischen Freiheit musste sich das Theater neu orientieren und strukturieren und sich den Anforderungen der gesellschaftlichen Veränderungen stellen. In diesem Zuge wächst im europäischen Kontext eine neue Generation von Dramatikerinnen und Theatermacherinnen heran, die jenseits der romantisierenden Frauenklischees des sentimentalen, auf die Privatsphäre konzentrierten Kunstbegriffs agieren, neue Ausdrucksweisen suchen, neuartig und experimentell, grotesk, ironisch und brutal. Sie besetzen Themenkomplexe, die früher eine Männerdomäne waren – erzählen von Krieg, politischen Kämpfen, Identitätssuche und nationalen Ängsten. Aber werden sie auch gehört? Bedeuten die shakespeareschen Bretter tatsächlich noch die Welt, oder ist das Theater mit der zunehmenden Medialisierung unserer Gesellschaft zu einer Randerscheinung geworden? Und welche Rolle spielen Frauen als Dramatikerinnen und Theaterpraktikerinnen darin?

Diesen Fragen widmete sich das dreitägige Symposium Dramaqueen: Neues Theater von Frauen aus Mittel- und Osteuropa, das vom 06. bis 08. Mai in Berlin stattfand, konzeptuell und organisatorisch von den Kulturmanagerinnen Katarina Tojić, Kateryna Stetsevych und Stefanie Stegmann vorbereitet, einem Trio, das sich bereits mit seinen „Wechselstrom- Projekten“ zu frauenspezifischen Themen der aktuellen Literatur aus Mittel- und Osteuropa und den arabischen Ländern einen Namen machte.

Autorinnen und Theaterexpertinnen aus mehr als zehn Ländern Europas kamen in Berlin zusammen, um sich über die aktuelle Lage des Theaters und die Rolle der Frauen darin auszutauschen und in Lesungen und Podiumsdiskussionen die aktuelle Theaterlandschaft in Mittel- und Osteuropa in ihrem politischen und allgemein gesellschaftlichen Kontext vorzustellen.

Den Auftakt machte auf dem Podium des Literarischen Colloquiums die Lesung von zwei Dramatikerinnen, die als bedeutendste Vertreterinnen des aktuellen Dramas ihrer Länder angesehen werden. Die Polin Dorota Masłowska wurde mit ihrem ersten Stück Zwei arme, polnisch sprechende Rumänen vorgestellt, einem skurrilen Drogentrip durch das heutige Polen, das sie 2006 für das Warschauer Teatr Rozmaitości  schrieb und mit dem sie ihre Karriere als Dramatikerin startete. Aus dem Werk der Kroatin Ivana Sajko wurde ihr Theatermonolog Europa ausgewählt, ein Text, in dem Europa als traumatisierte Frau durch die Geschichte geistert und der in der heutigen Krise der europäischen Werte kaum aktueller sein könnte. Sabine Adler befragte die Autorinnen während der anschließenden Podiumsdiskussion zum Ursprung von Wut und Aggressivität in ihren Texten. Sajko bezog sich auf die politische Situation der neunziger Jahre in ihrem Land und definierte ihre Texte als eine „normale Antwort auf eine abnormale Welt“. Die dreizehn Jahre jüngere Masłowska beschrieb dagegen die innere Wut ihrer Texte als Motor ihrer Kreativität und sprach zugleich über ihre Angst, diese Wut zu verlieren, da sie mit zunehmendem Alter „immer tiefer verstrickt in diese Welt“ sei. In den Texten beider Autorinnen werden die Frauen- und Männerwelten polarisiert, beide distanzierten sich aber von einem männlichen Feindbild eines naiven Feminismus: ihre schriftstellerische Identität sehen sie viel autonomer. Genauso lehnten es beide Autorinnen ab, mit der offenen Schilderung von Sexualität schockieren zu wollen. Masłowska betonte, dass ihre Texte vor allem sie selbst interessieren müssen, ihr Schreiben verglich sie mit einem „Wühlen im Müll“. Sie entzog sich auch einer kurzschlüssigen Identifizierung ihrer Texte mit der polnischen politischen Gegenwart. Sajko betonte, dass ihre Theaterstücke und das heutige Theater allgemein keine Lösungsvorschläge für die Realität mehr geben, keine Ideologie verbreiten möchten. Sie will mit ihrem Schreiben vor allem Fragen stellen, die zum Nachdenken anregen. Beide Dramatikerinnen erklärten, sich nicht durch kalkulierte Provokation oder männerfeindliche Bilder definieren zu wollen und die Inspiration für ihre Texte als ein allgemein gesellschaftliches Anliegen zu betrachten.

Für die nächsten zwei Tage zog das Symposium Dramaqueen in die Sophiensaele, um in fünf thematischen Podiumsdiskussionen weiteren Fragen der neuen Ästhetik der Sprache und der Rolle des transformierten Theaters in Mittel- und Osteuropa nachzugehen. Im ersten Panel Die Bühne im Rampenlicht sprachen Theaterexpertinnen aus vier Ländern über die politischen Wandlungsprozesse in ihren Ländern und ihren Einfluss auf die jeweilige Theaterlandschaft. Spätestens jetzt wurde deutlich, wie schwierig es ist, über die Länder Mittel- und Osteuropas in einem Atemzug zu sprechen. Während die ungarische Theaterwissenschaftlerin und Theaterkritikerin Andrea Tompa ihre Theaterlandschaft aus der Sicht der westlich orientierten Kulturförderung betrachten konnte, sprach die ukrainische Regisseurin Svitlana Oleshko über eine Mauer, die nicht wirklich gefallen ist, sondern nur Richtung Osten gezogen ist/verschoben wurde. Tompa stellte die in Ungarn zurzeit geführte Debatte vor, in der sich zwei Lager gegenüber stehen: die Optimisten, die den Erhalt der früheren, vorrevolutionären Organisation des Theaterlebens als positiv einstufen, und die Pessimisten, die entgegnen, dass man dadurch den Weg für neue künstlerische Ausdrucksformen versperrt. Das Resultat dieser Debatte, nämlich die Subventionierung des unabhängigen Theaters mit 10 % der staatlichen Gesamtförderung des Theaterbereichs, weckt bei ihr die Hoffnung, dass sich das bisher von ihr als eher starr und kommerziell gesehene Theaterleben mobilisieren lässt. Die Ukrainerin Oleshko kämpft dagegen mit existenziellen Ängsten und staatlichem Desinteresse, wenn sie in ihrem kleinen unabhängigen Theater Arabesky in Charkiv aktuelle Texte der ukrainischen Literatur auf die Bühne bringt (z. B. von Serhij Zhadan) und sich in ihrem Alltag mit der „Kommission für Erforschung der Moralfragen“ konfrontiert sieht. Sie beschrieb, wie die Entwicklung des ukrainischen Theaters in der Sowjetzeit vernichtet wurde und das sowjetische Modell des Theaters als Verlängerung des Staatsapparates die Bühnen in der Ukraine jahrzehntelang beherrschte. Durch die ungenutzte Chance der Orangenen Revolution ist für Oleshko das ukrainische Theater nach wie vor das staatlich subventionierte und kontrollierte Sowjettheater. Das unabhängige Theater lebt an der Peripherie der Großstädte, dort gibt es neue Impulse für die Szene, die aber keine staatliche Förderung erfährt. Die russische Theaterkritikerin, Historikerin und Leiterin des Festivals für neues europäisches Theater in Moskau Marina Davydova sprach über die subversive Rolle des Theaters in der Sowjetzeit, wo dem Theater oft eine Rolle des geheimen politischen Kommentators zufiel. Nach dem Zerfall des Systems während der Perestroika verschwand diese Rolle schnell und die gesamte Theaterlandschaft kommerzialisierte sich stark. Daneben gibt es einen kleinen Sektor des experimentellen Theaters, das neue Ansätze bringt und aktuelle Stücke von Gegenwartsautoren inszeniert. Anja Suša, die Leiterin und Regisseurin des Kleinen Theaters Duško Radović in Belgrad, sprach über die Verschlimmerung der Situation für die Theater nach dem Fall der Mauer. Jugoslawien genoss vor 1989 eine Sonderrolle, man konnte reisen und das Belgrader Theaterfestival BITEF wurde zu einem der wichtigsten Treffpunkte des ost- und westeuropäischen Theaters. Für dieses Festival arbeitet Suša nun als Kuratorin, zusammen mit seinem langjährigen Leiter Jovan Ćirilov. Vom  Jugoslawienkrieg geprägt, flüchtete sich das serbische Theater in realitätsfremde Themen. Nach dem Fall von Miloševićs Regime herrschte Aufbruchstimmung, eine neue Generation von Theatermachern kann sich realisieren und es entstehen viele neue Theaterformen und Ansätze. Suša befürwortet ein Theater, das an dem aktuellen Geschehen des Landes interessiert ist und arbeitet selbst in dieser Richtung seit Jahren mit Kindern und Jugendlichen als Regisseurin. Das heutige serbische Theater ist für sie zurzeit sehr spannend. Trotz der oft schwierigen politischen Lage sieht sie eine neue Generation von Autoren und Theatermachern heranwachsen, die die Konfrontation mit der Realität suchen. Eine davon – die junge Dramatikerin Maja Pelević – sitzt im Publikum.

Auf die Frage nach der Position der Frauen in den Theatern der vertretenen Länder antworten die Teilnehmerinnen sehr unterschiedlich. Während in der Ukraine die klassischen patriarchalen Strukturen herrschen und Frauen nur schwer leitende Posten in den Theatern besetzen können, ist es in Serbien kein Thema mehr – Frauen haben dort längst die Theaterlandschaft erobert und gestalten sie gleichberechtigt mit. Andrea Tompa ist ein wenig skeptischer, was die Chancengleichheit in Ungarn anbetrifft – die Macht ist für sie immer noch mehr mit den Männerbildern verbunden. Russland bezeichnet Marina Davydova als ein typisch chauvinistisches Land – die  meisten Theaterdirektoren sind Männer, Frauen sind die Theaterkritikerinnen. Sie verwies auf das Werk der russischen Dramatikerin Petruschewskaja, die dieses Phänomen thematisiert. Bereits nach dem ersten Panel ist klar – es wird hier keine homogene Theaterlandschaft, die ihre postrevolutionären „Ostthemen“ pflegt, vorgestellt, sondern eine Vielstimmigkeit und Vielfalt, die durch die Brille eines „Westeuropäers“ oft verschwimmt.

Die zweite Panel-Debatte richtete sich an die eingeladenen Autorinnen selbst: die Moderatorin Insa Wilke erkundete im Gespräch die Ästhetik der Sprache, die ihre Werke prägt. Spätestens seit den Neunzigern findet im Drama eine Neudefinierung des Genres statt – die Dialogizität und die interpersonelle Handlung treten in den Hintergrund, es wird in Sprachflächen und Textblöcken mit großen epischen Strukturen gearbeitet. Das prägte auch die Poetik der anwesenden Autorinnen. Nora Mansmann, die als deutschsprachige Vertreterin der jungen Autorinnen die Debatte aus deutscher Sicht ergänzt, stellt fest, dass ihre Sprache meist Komponisten am besten verstehen, da sie ein Gespür für das Musikalische darin haben. Auf die Frage nach dem Unterschied zwischen dem literarischen und dramatischen Schreiben antwortet Dorota Masłowska mit dem Hinweis auf die Art der Aussagen: ihre Figuren sagen auf dem Theater nicht das, was sie denken, dadurch werden sie entlarvt, die Worte sind für sie wie „ein Virus, den sie in den Mund von fremden Leuten legt“. Im Schreiben fürs Theater fühlt sich Masłowska viel freier als bei ihren früheren prosaischen Texten. Sie spiegelt mit ihren Stücken „die geistige Leere einer Gesellschaft, die sich ausschließlich auf das Geldverdienen konzentriert“ und in die durch das Fernsehen nur „Versatzstücke vom Denken“ reingepumpt werden. Ihre Aufgabe sieht sie darin, diese „Gedanken aufzunehmen, sie zu wiederholen und dadurch ihre Fassade zu untermauern“. An einer Zusammenarbeit mit Regisseuren ist Masłowska eher nicht interessiert, sie gibt ihnen keine Ratschläge oder Hinweise, beobachtet aber mit Erstaunen, wie ihre Worte auf der Bühne leben. Die serbische Dramatikerin und Dramaturgin am Nationaltheater Belgrad Maja Pelević erzählt, dass ihre Stücke immer ihre persönliche Aussage sind, ihre Ansichten zeigen. Ihr zurzeit bekanntestes Stück, das 2009 seine deutsche Uraufführung im Theater Osnabrück erlebte, heißt Orangenhaut und porträtiert die Klischees der medialisierten Weiblichkeit. Zu den wichtigen Komponenten ihrer Texte gehören für sie Emotion, Idee und Rhythmus. In Serbien sieht sie eine neue Generation von  Regisseuren heranwachsen, mit denen sie gut zusammenarbeiten kann, die aber sehr schwer an die großen Theater kommen, da die Kultur leider immer noch stark mit der Politik verknüpft ist. Sie ist Mitgründerin eines Internetportals, das neues Drama unterstützt. Zehn Jahre nach dem Boom der Texte von Biljana Srbljanović gibt es für sie in Serbien eine Reihe interessanter Theaterautoren, z. B. Milena Marković. Die moldauische Dramatikerin und Regisseurin Nicoleta Esinencu schreibt monologische, politische Stücke, die meist keine konkrete Handlung aufweisen. In Antidot reflektiert sie z. B. die europäische Geschichte anhand des Umgangs mit Gas, vom Zyklon B aus den Auschwitzer Gaskammern bis zu neuen Pipelines. Das Stück wurde in Moldau als irrelevant bezeichnet, dort herrscht für sie keine Offenheit für aktuelle Themen und neue Theaterformen. Ein anderes Extrem sieht dafür Nora Mansmann in der deutschen Theaterlandschaft – neue Dramatik ist für sie „ein extremer Markt“ und die Autoren schreiben zum Teil, um sich der herrschenden Codes zu bedienen und in der Hoffnung, einen Preis zu gewinnen.

Da Esinencu in ihrer Heimat keine geeigneten Regisseure und Theater findet, inszeniert sie ihre Stücke selbst. Nicht nur aus Mangel an Mitteln entstand ihre karge, zivile Inszenierungspoetik. Esinencu möchte den Text sprechen lassen, die Aussagen ihrer Texte sind für sie wichtiger als die Beziehungen der Figuren. Auf dem Theater bewegt sie sich „vertikal, nicht horizontal“, es ist die Gesellschaft selbst, die ihr „diesen Rhythmus vorgibt“. Trotz vieler unterschiedlicher Textansätze ist gerade das gesellschaftliche Engagement allen vier Autorinnen gemeinsam.

Mit dem kroatischen Performance-Duo Anica Tomić und Jelena Kovačić und zusammen mit der ukrainischen Theaterkritikerin und Autorin Marysia Nikitiuk diskutierte die Moderatorin Sabine Adler im Panel Provokationen über die Möglichkeit des Theaters sich in das aktuelle Geschehen einzumischen, Stellung zu nehmen. Tomić und Kovačić erzählen, wie sie nach ihrem Studium von der alternativen Theaterszene in die staatliche wechselten und wie ihnen vorgeworfen wurde, nicht mehr unabhängig und kritisch sein zu können. Die klischeehafte Kluft zwischen beiden Szenen möchten sie überbrücken und arbeiten an eigenen Autorenprojekten, die weiterhin ihre persönlichen Aussagen reflektieren. Ein Teil der alternativen Off-Szene zu sein, bedeutet für sie nicht automatisch, provokativ sein zu müssen. Den Begriff Provokation sehen sie eher metaphorisch, sie wollen „sich selber provozieren und die Grenzen der eigenen Kreativität erreichen“. Kovačić betont, dass für sie Provokation nicht mit einem Skandal verbunden ist, viel mehr will sie das Schweigen, das nach dem Krieg über ihrem Land liegt, brechen und Zuschauer, die oft nach ihren Performances zu ihr kommen, zu Fragen animieren. Tomić betont die Anbindung ihres Werkes an das aktuelle gesellschaftliche Klima – ihre Themen muss sie sich nicht suchen, sie kommen von allein. Auch für die Ukrainerin Marysia Nikitiuk ist Provokation kein Selbstzweck. Viel mehr als provokante Themen vermisst sie in der ukrainischen Theaterlandschaft die Bereitschaft, sich mit den Problemen des Landes auseinander zu setzen. Das neue Theater in der Ukraine steht für sie erst am Anfang, gute Texte fehlen, vom Theater erwartet man hauptsächlich Unterhaltung. Es gibt allerdings eine kleine alternative Landschaft, die versucht, auf die Probleme des Publikums einzugehen. Sie hat aber mit schwierigen Lebensbedingungen zu kämpfen, ist oft auf nichtstaatliche Mäzene angewiesen. In der Ukraine vermisst Nikitiuk auch jegliche Fördermaßnahmen für neue Dramatik, wie z. B. Stipendien oder Preise, aus denen neue Texte hervorgehen könnten.

Theater als Ort der gesellschaftlichen Auseinandersetzung befürworten auch die Autorinnen des vorletzten Panels. Zum Thema Gedächtnisspeicher sprechen mit der Moderatorin Insa Wilke die rumänische Dramatikerin Gianina Carbunariu und die polnische Übersetzerin und Schriftstellerin Monika Muskała. Gianina Carbunariu ist die bekannteste junge rumänische Dramatikerin, die auch im deutschen Theater bereits Fuß fasst. Ihr Stück Kebab wurde in Berlin und München gespielt, ihre erste Regiearbeit für ein deutsches Theater Sold out hatte Anfang Mai in München Premiere. Darin geht es um die Rumäniendeutschen, die von der BRD freigekauft wurden. Carbunariu ist an einem Theater interessiert, das Geschichtswunden öffnet und aufarbeitet, sich mit der Realität beschäftigt. Für ihr Stück führte sie Interviews mit fast 40 Menschen, die ihr ihre persönlichen Schicksale anvertrauten. Um neue Themen für das rumänische Theater zu entdecken, gründete sie zusammen mit anderen Regisseuren das Projekt DramaCum, wo sie jungen Autoren (bewerben dürfen sich Autoren bis zu ihrem 26. Geburtstag) die Möglichkeit gibt, ihre Texte im Theaterbetrieb zu verifizieren. Für Monika Muskała, die zusammen mit ihrer Schwester Stücke unter dem Pseudonym Amanita Muskalia schreibt, braucht das Dokumentarische eine besondere, metaphorische Ebene, die sie über die Sprache konstruiert. Ihre Personen sprechen, um die Wahrheit zu vermeiden. In dem Stück Reise nach Buenos Aires thematisiert sie anhand persönlicher Erfahrungen die Alzheimer-Erkrankung einer alten Frau. Zuerst ist das Stück in der dritten Person entstanden, erst dann wurde klar, dass die Hauptfigur für sich sprechen muss, um den Bruch mit der Wirklichkeit nachvollziehbar zu machen. Muskała kritisiert den Hype um die jungen Autoren, viele polnische Dramatiker vor allem der neunziger Jahre sind für sie Epigonen des britischen „cool drama“. Sie selbst fühlt sich nicht als Vertreterin einer Generation. Das Theater ist für beide Autorinnen ein Ort, an dem Geschichtsverarbeitung stattfindet, in einem ständigen Dialog mit dem Publikum.

Die letzte Panel-Diskussion, moderiert von der Übersetzerin Claudia Dathe, zum Thema Kreuzungen fokussierte die Wahrnehmung der Theaterszene aus Mittel- und Osteuropa in Deutschland. Yvonne Büdenhölzer sprach über ihre Erfahrungen als Managerin der Theaterbiennale Neue Stücke aus Europa in Wiesbaden – sie sucht Stücke fürs Publikum aus und ist an einer Vielfalt interessiert. Von fremdsprachigen Stücken erhofft sie sich vor allen neue Impulse. In der heutigen Theaterlandschaft Deutschlands sind Erstaufführungen leider rückläufig und so sieht sie keinen einfachen Weg für Autoren, im Theater dauerhaft Fuß zu fassen. Bei ihren Recherchereisen stellte sie allerdings fest, dass es in Osteuropa viel Epigonentum gibt, in Rumänien ist sie z. B. auf Castorf-Epigonen gestoßen. Die beste Unterstützung für Dramatiker sieht sie in einer Hausautorenschaft, wie dies zurzeit in Mannheim geschieht: der Zuschauer braucht für sie eine Kontinuität. Die Theateragentin Christina Links, die sich seit Jahren für die Dramatik aus Mittel- und Osteuropa engagiert, betonte, wie schwierig es ist, Autoren aus diesen Ländern nach Deutschland zu holen und sie an ein Theaterhaus zu binden. Ausländische Autoren können nur über viele Produktionen bekannt gemacht werden, in Deutschland werden jedoch nach einer Uraufführung die Stücke meist nicht nachgespielt. Sie stellt fest, dass die Offenheit gegenüber den Osteuropäern in den neuen Bundesländern größer ist, man hat viele gemeinsame Erfahrungen. Über eine Verständniskluft beim deutschen Publikum spricht auch die Kroatin Gordana Vnuk, die sich (als Frau und Osteuropäerin) beim Wettbewerb um die künstlerische Leitung des Hamburger Theaters Kampnagel gegen viele deutsche Kollegen (z. B. Matthias Lilienthal) durchsetzte und dort von 2001 bis 2007 Intendantin war. Für ihre osteuropäischen Inszenierungen war es schwierig, in Hamburg ein Publikum zu finden, die Zuschauer für fremde Themen zu begeistern (z. B. mit einem Projekt über Tito). In Deutschland sieht sie eine Uniformität auf dem Theater, alle inszenieren gleich und es können sich nur ausländische Regisseure durchsetzen, die einen ähnlichen Stil haben (z. B. Arpád Schilling aus Ungarn). Sie plädiert dagegen für kulturelle Vielfalt und Offenheit gegenüber neuen Theaterformen. In ihrer Kampnagel-Zeit suchte sie bewusst nach kulturellen Begegnungen und initiierte Austauschprojekte zwischen Theatern. Auf dem Zagreber Theaterfestival EUROKAZ, das sie 1987 gründete und seitdem leitet, will sie das Theater bewusst neuen Technologien öffnen, bezieht neue Medien, Tanz oder Video ein und gestaltet eine Dramaturgie, die das Theater von der „Ideologie des Textes“ befreien will und kreativ mit Texten umgeht. Kulturelle Begegnungen sind wichtig auch für die vierte Teilnehmerin dieses Panels, die aus Georgien stammende Theaterregisseurin und Dramatikerin Nino Haratischwili, die die zweisprachige deutsch-georgische Theatertruppe Fliedertheater leitete und mit ihrem Stücken erfolgreich auf deutschen Bühnen präsent ist. Sie berichtet über ihre Erfahrungen in Georgien, wo es ihre Stücke viel schwerer haben. Die neue Generation der Theatermacher kann sich dort nur mühsam gegen die ältere Generation durchsetzen und so sind viele ihrer Freunde ins Ausland gegangen. Das moderne Theater höre dort bei Beckett auf und es fehle der theoretische Hintergrund. Ihre Stücke, die sich kritisch mit der politischen Lage und den Kriegszuständen in ihrem Land auseinandersetzen, werden in Georgien negativ betrachtet. So wird deutlich, welch privilegierte Stellung das Theater in Deutschland hat, wo die Autorenförderung selbstverständlich ist.

Das Symposium mit seiner offenen Atmosphäre erwies sich als eine geeignete Plattform sich kennen zu lernen und auszutauschen und bot die Gelegenheit, eigene Netzwerke zu erweitern. In der Abschlussdiskussion wurde das Phänomen der Auseinandersetzung der Länder  Mittel- und Osteuropas untereinander angesprochen. Viele der postkommunistischen Länder haben sich sofort am Westen orientiert. Maja Pelević berichtet, dass Autoren aus England oder Deutschland bevorzugt werden, die eine Biografie voller Preise und Stipendien vorweisen können. Dies ist in Osteuropa aber oft nicht der Fall und so werden osteuropäische Autoren ignoriert. So endete das Symposium mit einem gemeinsamen Aufruf, Neugier und Interesse untereinander zu zeigen und Gemeinsamkeiten und Kooperationen zu suchen.

In dem Artikel „Im Sog des Unverarbeiteten“ berichten die Theaterkritiker Nikolaus Merck und Dirk Pilz (auf dem Portal Nachtkritik) über das moldauische Gastspiel Antidot von Nicoleta Esinencu als von einer „dunklen Nachricht aus einem fernen, fremden Europa“. Das Symposium lieferte viele Gründe dafür zu überlegen, ob dieses Europa doch nicht so fern und fremd ist und ob es sich nicht lohnt, genauer hinzusehen.

In Zeiten, wo in den Medien bereits an dem Gesamtkonzept Europa gezweifelt wird, setzte dieses Symposium eine ganz andere Botschaft in die Welt – einen Ruf nach mehr Zusammenhalt und mehr Austausch, Solidarität und Interesse innerhalb von Europa.

 

Berlin, Mai 2010

Barbora Schnelle

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